„Zum Osten abgeschoben”– Erinnerungslesung über die jüdische Familie Frank aus Sodingen

Am 27. Januar 2017 gestaltete die Mont-Cenis-Gesamtschule den Schülerbeitrag für die offizielle Gedenkveranstaltung der Stadt Herne an die Opfer der Shoah in Herne und Wanne-Eickel. 

Die Lesung

Unter Leitung von Céline Spieker war die Szenische Lesung: „Zum Osten abgeschoben“ – Die Geschichte der jüdischen Familie Frank aus Sodingen“ in Kooperation mit dem Herner Historiker Ralf Piorr und dem Stadtarchiv Herne entwickelt worden. Die hoch gelobte szenische Lesung wurde mit dem Margot-Spielmann-Preis 2017 des Jüdischen Museum Westfalen ausgezeichnet.

Auf der Bühne des an diesem 27. Januar 2017 mit über 400 Zuschauern und Zuschauerinnen voll besetzten Herner Kulturzentrums sitzen die Schüler des elften Jahrgangs  Jan M. und Tom W. an einem Schreibtisch und wälzen Akten. Neben ihnen steht ein „Volksempfänger“ – ein Originalradio aus den 30er Jahren. Aus der Sicht von Geschichtsforschenden entfalten die beiden 18-Jährigen nun das Leben der jüdischen Famile Frank aus Herne-Sodingen, abwechslungsreich unterbrochen von den chorförmig im Halbkreis sitzenden Carina B., Shilan O., Dilek Y., Aytunç T. und Florian M., die ihre Stimme Zeitzeugen und historischen Dokumenten leihen.

Die Geschichte der Familie Frank

Gemeinsam erzählen sie, wie die Franks gezwungen waren, ihr gut gehendes Textilgeschäft in der Mont-Cenis-Straße 251 aufzugeben, als der Antisemitismus auch im Bergarbeiterdorf Sodingen unerträglich wurde.

Der älteste Sohn der Franks, Kurt, konnte sich nach Israel retten, sein jüngerer Bruder Werner floh mit einem Kindertransport in die USA, Tochter Ruth blieb mit den Eltern Louis und Julie in Herne. Von den NS-Behörden gezwungen, zogen sie ins sogenannte „Judenhaus“ in der Bahnhofstraße 59, wo sie mit vielen weiteren Familien den knappen Wohnraum teilen mussten. Doch sie entkamen der Deportation nicht: Gemeinsam mit Hunderten Juden und Jüdinnen aus dem Ruhrgebiet wurde Ruth am 27. Januar 1942 nach Dortmund in den dortigen Börsensaal gebracht und dann ins Ghetto Riga deportiert. Sie starb 1944 im KZ Stutthof, vermutlich an den Folgen des kräftezehrenden Todesmarsches. Auch die Eltern Louis und Julie wurden deportiert – ins KZ Theresienstadt mit dem Transport am 30. Juli 1942. Dort wurde Julie Frank einige Wochen später am 21. August 1942 ermordet. Louis Frank wurde am 23. September 1942 nach Treblinka deportiert und dort zwei Tage später vergast.

Der bedrückende Bericht der Jugendlichen, untermalt von Leinwandprojektionen im Bühnenhintergrund, taucht das Publikum in die düstere Atmosphäre der NS-Zeit und lässt Familie Frank ganz lebendig und real erscheinen: Eine ornamental verzierte Geschäftsanzeige aus dem Vereinsblatt des SV-Sodingen, ein Familienfoto aus unbeschwerten Tagen im Gysenbergpark zu Ostern 1928, Fotos des Boykotts jüdischer Geschäfte in der Bahnhofstraße und schließlich das Kinoprogramm von 1942 („Quax der Bruchpilot“) und die Deportationsliste vom 27. Januar 1942 ins Ghetto Riga hinterlassen an diesem Abend deutliche Spuren bei den Zuschauern und Zuschauerinnen. Dazu tragen auch die zwei verstörenden Soundcollagen bei, die Tim Müller, DJ und Regieeassistent, aus NS-Unterhaltungsmusik zusammengestellt hat. Sie ertönen, sobald der Volksempfänger eingeschaltet wird. Während der Alltag im NS weiterlaufen sollte, so wird nun klar, ereignete sich in Sodingen – nur wenige Meter von der Schule entfernt – Unfassbares.

Skype-Interview mit Dan Frank

Als gegen Ende der Szenenfolge schließlich das Gesicht von Dan Frank (Kurt Franks in Israel geborener Sohn) überlebensgroß auf der Leinwand erscheint und sein Skype-Interview mit Florian und Aytunç bei Radio Herne 90,8 zu hören ist, kommen die Darstellenden und ihr Publikum  wieder in der Gegenwart an. Und so hören alle mit wachem Verstand, wie Dan Frank erzählt, dass sein Vater mit ihm nie über Herne-Sodingen gesprochen habe, denn der Schmerz des Vaters darüber sei zu groß gewesen, dass all seine Bemühungen, seine Eltern und seine Schwester Ruth nach Israel zu holen, vergebens waren. Noch heute frage er sich, warum das alles geschehen sei und umso mehr tue es ihm gut, dass sich die Jugendlichen der MCG anlässlich des Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar mit dem Unrecht, das seiner Familie widerfahren sei, auseinandergesetzt hätten. „In Israel“, so der 79-Jährige, der von seinem Großvater mütterlicherseits Deutsch lernte, „ist man sehr wachsam über antijüdische Vorfälle in Europa“. Es sei wichtig, sich „diese Sache vorzunehmen, denn Völkermord passiert auch heute noch.“

Musikalischer Beitrag der Big Band

Zur würdigen und nachdenklichen Atmosphäre tragen auch die von Bandleiter Ingo Marmulla sorgsam für diesen Abend  ausgewählten und arrangierten Songs bei. Die Big Band des 10. Jahrgangs setzt mit dem berühmten Swing-Song „Bay mir bistu sheyn“, von Sholom Secunda und Jacob Jacobs aus dem Jahr 1932 ein, dessen Refrain im Original auf Jiddisch gesungen wird, jener rund tausend Jahre alten Sprache, die aus Deutsch und vielen anderen Sprachelementen hervorgegangen ist und von einigen Juden und Jüdinnen bis heute gesprochen wird. 

Mit dem sehr bekannten KZ-Lied „Die Moorsoldaten“, das 1933 im Konzentrationslager Börgermoor im Emsland von den Häftlingen Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel geschaffen wurde, setzt die Big-Band ihre musikalische Zeitreise fort. Im Lied beschreiben sie ihre eintönige Zwangsarbeit im trostlosen Moor: „Wohin auch das Auge blickt/ Moor und Heide nur ringsum/ Vogelsang uns nicht erquickt/ Eichen stehen kahl und krumm/ Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor!“ Das Lied wurde u. a. von Ernst Busch, Hannes Wader und den Toten Hosen neu bearbeitet. 

Nach der szenischen Lesung stimmen die jungen Band-Mitglieder „Castle of Glass“ von Linkin Park an. Der düstere Song aus dem Jahre 2013 vereint verschiedene Elemente des Electronic Rock und klingt atmosphärisch und poetisch. Im Text wünscht sich der Sänger das Ende von blutigen Kämpfen, deren Gift er abwaschen möchte, um wieder „ganz“ zu werden: „Take me down to the river bend/ Take me down to the fighting end/ Wash the poison from off my skin/ Show me how to be whole again.“ Mit der Botschaft von „Castle of Glass“ endet der Beitrag der Big-Band der MCG, der mit diesen Songs ein eigenständiger musikalischer Kommentar innerhalb des Erinnerungsprojekts gelingt. Dieser Auftritt im Kulturzentrum gilt als einer der besten ihrer zahlreichen Live Acts.

Das Publikum, darunter der Oberbürgermeister der Stadt Herne, Dr. Frank Dudda, Schülerinnen und Schüler und Eltern, aber auch interessierte Bürger und Bürgerinnen, zeigt sich im Anschluss an die Präsentation sichtlich bewegt und beeindruckt von der hervorragenden Leistung der Jugendlichen. Besonders das Skype-Interview mit Dan Frank ist Vielen unter die Haut gegangen. Sie sei überrascht gewesen, berichtet die Projektleiterin Céline Spieker, als er sie eines Tages angerufen habe, nachdem sie eine aufwändige Internet-Recherche in einschlägigen Genealogie-Foren angestellt und ihn über Umwege angeschrieben habe. Nur so sei es gelungen, den Kontakt zur Familie Frank aufzubauen und wichtige Informationen und Dokumente für das Projekt zu gewinnen. 

Resonanz und Entstehung

Das Publikum, darunter der Oberbürgermeister der Stadt Herne, Dr. Frank Dudda, Schülerinnen und Schüler und Eltern, aber auch interessierte Bürger und Bürgerinnen, zeigt sich im Anschluss an die Präsentation sichtlich bewegt und beeindruckt von der hervorragenden Leistung der Jugendlichen. Besonders das Skype-Interview mit Dan Frank ist Vielen unter die Haut gegangen. Sie sei überrascht gewesen, berichtet die Projektleiterin Céline Spieker, als er sie eines Tages angerufen habe, nachdem sie eine aufwändige Internet-Recherche in einschlägigen Genealogie-Foren angestellt und ihn über Umwege angeschrieben habe. Nur so sei es gelungen, den Kontakt zur Familie Frank aufzubauen und wichtige Informationen und Dokumente für das Projekt zu gewinnen. 

Wiederholung der Szenischen Lesung in der Schule

m März 2017 wiederholten die Jugendlichen des 11. Jahrgangs auf vielfachen Wunsch von Mitschülern und -schülerinnen und Lehrkräften ihre detailliert recherchierte historische Szenenfolge, umrahmt von passenden Musikstücken der Big-Band des 10. Jahrgangs (unter der Leitung von Ingo Marmulla).

Zum Abschluss der Lesung würdigte Schulleiterin Reimann-Pérez das Engagement der Schülerinnen und Schüler für Vielfalt und Toleranz und den Wert der europäischen Verständigung mit Blumen. Sie dankt auch dem Projektteam, bestehend aus Céline Spieker, Ingo Marmulla, Ralf Piorr und Tim Müller mit Blumensträußen.

Ralf Piorr, der als Historiker seit über 15 Jahren die Erinnerungskultur der Stadt Herne gestaltet, hatte eingangs in einem kurzen Statement betont, dass viele langjährige Besucher und Besucherinnen der Gedenkstunde im Kulturzentrum ihm gegenüber betont hätten, dass der Schülerbeitrag in diesem Jahr so gut wie noch nie gewesen sei – mit einem vollbesetzten Kulturzentrum als Indiz. Der Historiker, der die neue Ausstellung zur Stadtgeschichte Hernes und Wanne-Eickels im Emschertalmuseum in Wanne-Eickel kuratiert hat, lobte das besondere Engagement der Jugendlichen und die fruchtbare Zusammenarbeit mit Frau Spieker. Er kündigte an, dass er in Kooperation mit der Stadt Herne und der MCG im Jahr 2019 eine Nahtstellentafel vor dem Haus der Familie Frank zum Gedenken aufstellen werde.

Das Projekt in den Augen der Jugendlichen

Die tolle Leistung der Jugendlichen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welchen Einsatz sie über mehrere Monate zeigten: Sie übten den Beitrag in „gefühlt 25 Leseproben“ ein, sie scheuten vor Radio- und Presseinterviews, dem Auftritt vor 400 Zuschauern und Zuschauerinnen im Kulturzentrum Herne, Stadtteilerkundungen und zahlreichen Archivbesuchen – sogar in den Weihnachtsferien – nicht zurück und erlebten so, dass Engagement Spaß einbringt. Schließlich gab es als Preis auch Kinokarten aus der Hand des Oberbürgermeisters. Dass ihr Beitrag nun vom Filmteam vom Mondkanal Herne (Roland Schönig und Gerd Biedermann sind an diesem Abend mit zwei Kameras dabei) auf Bits und Bytes gebannt wird, erscheint den Schülern und Schülerinnen schon beinahe wie eine Randnotiz, so professionell gehen sie mittlerweile mit Mikros, Kameras und Bühne um.

Carina B. war nicht nur engagierte Rechercheurin und Koordinatorin des Projekts, sie layoutete (unterstützt von Maren A.) auch das ins Auge fallende schwarze Veranstaltungsposter für die Wiederholungslesung in der Aula der MCG. Schon gibt es neue Angebote für die Entwicklung weiterer Poster. „Das Projekt“ meint Carina, „bleibt mir gut in Erinnerung. Vor dem Auftritt war ich sehr nervös und musste daran denken, dass vielleicht etwas schieflaufen könnte, weil ich wusste, dass ich gleich am Mikrofon stehen werde. Gleichzeitig war ich stolz darauf, dass ich von der Familie Frank aus Sodingen erzählen durfte, damit jeder darüber informiert wird, was früher bei uns hier in Herne passiert ist. Nach der Veranstaltung kamen viele zu mir und sagten, dass es schön ist, dass auch Jugendliche sich mit dem Thema ,,Deportation" auseinandersetzen. Meiner Meinung nach war es eine gelungene Gedenkveranstaltung.“

Jan M., der eine der beiden tragenden Rollen in der szenischen Lesung übernahm, lobt die Recherche im Stadtarchiv und nennt es
„eine große Ehre, zu dieser Veranstaltung etwas beitragen zu können“. Er erinnert sich an die Recherche: „Als erstes machten wir eine Ortsbegehung in Sodingen. Dort redeten wir mit den Anwohnern und Mitarbeitern der dortigen Geschäfte und hofften, dass uns jemand etwas zur Familie Frank sagen könnte. Doch entweder konnte oder wollte uns niemand etwas sagten. Für mich war es sehr frustrierend, immer abgewimmelt zu werden.“ Die Arbeit im Stadtarchiv schildert er so: „Danach trafen wir uns mit Herrn Piorr im Stadtarchiv und erhielten eine Führung durch die Räumlichkeiten. Die Atmosphäre war von Anfang an sehr freundschaftlich. Bei den Recherchen und der Durchsicht der Dokumente standen uns die Mitarbeiter des Archivs mit Rat und Tat zur Seite. Es war anfangs ein komisches Gefühl, die alten Dokumente durchzusehen. Vor allem die Deportationsliste mit den abgehakten Namen in den Händen zu halten, war ein sehr bedrückendes Gefühl.“

Mit Begeisterung war auch Tom W., der die zweite Hauptrolle hatte, dabei: „Es war etwas vollkommen Neues mal etwas über Personen, die in Herne lebten, herauszufinden. Die Arbeit in der kleinen Gruppe war witzig, aber wir sind immer ernsthaft beim Thema geblieben und haben am Ende super Ergebnisse gehabt. Für mich war die Arbeit im Archiv sowohl interessant als auch spaßig, weil man sehen und lesen konnte, wie Herne in anderen Jahrzehnten war. Der Auftritt am 27.01.2017 war definitiv einer der Ereignisse, die ich in Erinnerung behalten werde, es war ein großer Spaß und eine tolle Erfahrung, die mich sicher im Leben weiterbringen wird. Es war anfangs zwar aufgrund der Nervosität nicht ganz einfach, aber als wir auf der Bühne waren und es durchgezogen haben, war die Erleichterung groß und die Freude noch größer, denn das Publikum war sichtbar begeistert. Unsere kleine Gruppe kann stolz darauf sein, dass sie etwas zum Gedenktag beigetragen und eventuell Leute zum Nachdenken gebracht hat. Es war eine tolle Zeit und Erfahrung, die ich jederzeit wieder machen würde.“

Fazit: Für die beteiligten Jugendlichen war dieses Projekt eine lohnenswerte Erfahrung, bei der sie selbständig die Geschichte ihrer Umgebung recherchierten und Verantwortung für die Erinnerungskultur der Stadt Herne und ihres Stadtteils übernehmen konnten. Für die MCG als Lerncampus in Sodingen war dieser Abend auch ein Auftakt, der Lust macht auf weitere Kulturveranstaltungen an der MCG.

Auszeichnung mit dem Margot-Spielmann-Preis

Der vom Publikum und Presse hoch gelobte Beitrag wurde im Dezember 2017 mit dem Margot-Spielmann-Preis des Jüdischen Museums Westfalen ausgezeichnet.